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Bern Baby, Bern (Blogartikel, Lesezeit: 2 Minuten)

Um diese Zeit im Jahr 1996 kam ich in Bern an. Vielleicht hatten die Konstellationen Ähnlichkeit mit ihrer heutigen Ausrichtung. Einen Geigenkasten auf dem Rücken, einen kleinen Koffer in der Hand, begeistert und beklommen zugleich, stieg ich aus dem Zug, der mich vom Flughafen Zürich nach Bern gebracht hatte. Auf dem Weg hinaus zum Bahnhofsplatz vernahm ich um mich herum eine beschwingte, scheinbar singende Sprache: Bärndütsch. Es sollte eine ganze Weile dauern, bis ich diesen Schweizer Dialekt und die dazugehörige Kultur verstand. In meinem in der Schule gelernten scheuen Deutsch erfragte ich mir den Weg zum Berner Konsi. Dort sollte ich zum Semesterbeginn meinen Lehrer Igor Ozim treffen. Es war mein erstes Studiensemester und auch das erste Mal, dass ich länger als ein paar Tage von zu Hause weg sein sollte. Ich sollte in Igor Ozims Meisterklasse studieren. Ein Studium bei ihm wurde mir durch ein Bundes-Exzellenz-Stipendium der Schweizerischen Eidgenossenschaft ermöglicht.

Ich studierte über vier Jahre in Bern bei Igor, an der Konsi und in seinen Meisterkursen.
Wir lernten viel über Max Rostal, Igors Lehrer, und dessen Lehrer Carl Flesch. Rostal hatte zwei Jahrzehnte lang in Bern unterrichtet, und Ozim sollte es ihm gleichtun.
Alle zwei Wochen traf sich unsere Klasse zur sogenannten Klassenstunde zum Spielen: Tonleitern, Etüden, Capriccios, Solosonaten ‑ was auch immer wir gerade parat hatten. Jedem einzelnen Stück wurde mit Interesse und Aufmerksamkeit zugehört. Es herrschte eine Art Kameradschaftsgeist unter uns Studierenden. Meine Studienkolleg:innen waren Freund:innen für mich, ein Haufen lebensfroher, energiegeladener junger Leute aus verschiedenen Ländern. Unter ihnen waren Gabriel Adorjan, der heute Konzertmeister an der Deutschen Oper in Berlin ist; der in Deutschland geborene Ulrich Poschner, der heute die 1. Violine im Luzerner Sinfonieorchester spielt und Konzertmeister des Argovia Philharmonic ist; Patricia Kopatchinskaja aus Moldawien, die auf allen Bühnen der Welt zuhause ist; Thomas Timm, ein Deutscher, der heute 1. Stimmführer der Gruppe der Zweiten Violinen bei den Berliner Philharmonikern ist; und die Schweizerin Bettina Sartorius, die die 2. Violine bei den Berliner Philharmonikern spielt.

Schon in der ersten Unterrichtsstunde fing ich an, mir Notizen zu machen. Der Unterricht von Igor war gespickt mit Informationen. Mir war schnell klar: Wenn ich mitkommen wollte, musste ich alles aufschreiben. Diese Arbeitsweise behielt ich während meines gesamten Studiums und bei allen Lehrern bei. Ich hatte das grosse Glück, jeweils von Lehrer:innen der fünf bedeutenden Violinschulen ausgebildet zu werden. Zunächst waren das meine Eltern, Ronald Masin und Maria Kelemen. Mein erster Lehrer ausserhalb meiner Familie war Herman Krebbers, später folgten dann Igor Ozim, Zakhar Bron, Ana Chumachenco und Shmuel Ashkenasi. Ich spielte, schrieb und notierte ununterbrochen, angetrieben von einem unstillbaren Wissensdurst. Schon vor meinem Studium bei Igor Ozim hatte ich begonnen, selbst zu unterrichten. In Bern dann probierte ich ihre Techniken und Ideen in meinem Unterricht aus und kombinierte sie mit meinen eigenen Methoden nach dem Prinzip Learning by Doing.
Meine Studienfreund:innen waren allesamt herausragend und hochambitioniert in ihrem Spielen. Aber niemand von ihnen hatte Lust am Schreiben oder Unterrichten.
Ich hingegen kam aus einer Familie von Musiker:innen und Lehrer:innen, und so war es für mich ganz normal, dass ich alle Anregungen und Hinweise auch aufschrieb. Da ich schon früh international Konzerte geben durfte, verbrachte ich die oft endlosen Wartezeiten an Flughäfen damit, festzuhalten, was ich gelernt hatte.

Als ich zehn Jahre später mein Studium abschloss, hatte ich so viele Informationen gesammelt, dass ich anfing, alles abzutippen. Daraus wurde dann meine Doktorarbeit: eine Sammlung von Interviews mit meinen ehemaligen Lehrer:innen und eine vergleichende Studie zu vorhandenen Geigenpädagogikmaterialien seit der fulminanten Entstehung des modernen Geigenspiels, also seit Viotti um das Jahr 1750. Ich führte Interviews mit meinen Lehrern, aber auch mit all jenen, bei denen ich zeitweise studierte: Nora Chastain, Thomas Brandis, dem langjährigen Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, Boris Kuschnir, Sigmund Niesel vom Amadeus Quartett, Gerhard Schulz vom Alban Berg Quartett. Eine meiner Motivationen dabei war meine Neugierde auf die Abstammung – sind wir wirklich alle über sechs Grade miteinander verwandt?

Seit meiner Studienzeit in Bern verbrachte ich viele Jahre auf Konzertreisen und bin danach für mein weiteres Studium und meine Arbeit oft umgezogen. Ich habe in Zürich, Florenz, Lübeck, Hamburg, Berlin, Budapest und Genf gelebt, bin aber zwischendurch immer wieder nach Bern zurückgekommen. Ich hatte stets eine Wohnung in der Stadt und war im Sommer auch immer in der Aare schwimmen.

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Manchmal werde ich gefragt: «Warum Bern? Warum nicht woanders?».
Es gibt viele Gründe, aber einer davon ist sicher das Wasser der Aare. Der Luxus, in fast jeder Strasse der Stadt direkten Zugang zum klaren, frischen Wasser zu haben, wird so sehr geschätzt, dass sich im Sommer Warteschlangen am Flussufer bilden, in denen die Menschen geduldig darauf warten, ans Nass zu kommen.

Das letzte Bad des Sommers 2022 habe ich letzte Woche genommen, gemeinsam mit meinem Freund und Duopartner Simon Bucher. Simon und ich sind uns 1996 in der Berner Konsi zum ersten Mal begegnet. Seither bietet das Ritual, mit dem Velo zum Fluss zu eilen, Simon auf der sich schlängelnden Strasse entlang der Aare zu treffen, um dann hineinzuspringen und sich flussabwärts treiben zu lassen, einen zeitlosen Raum in einer Welt ständigen Tempos. Die Kälte des Wassers auf der warmen Haut, das Rascheln der Kieselsteine im Flussbett, das Rauschen der Strudel, die sich in Abständen auf der Reise bilden, das Licht- und Schattenspiel auf der Oberfläche, der besondere Duft des grünen Wassers, während gleichzeitig die Jahreszeit in der Luft liegt – all dies vereinigt sich zu einem einzigartigen Erlebnis. Es fühlt sich an wie eine Wiedergeburt und entlockt mir jedes Mal, wenn ich eintauche, einen lauten Schrei der Freude über den Schock des kalten Wassers. «Äs isch chalt! U so schampar schön!», rufe ich unweigerlich in bestem Bärndütsch, wobei der Klang meiner Stimme an den Wänden einer Brücke, unter der die Aare hindurchfliesst, widerhallt. Feuer und Wasser, Erde und Luft – die Elemente vereint.