Eines der am beeindruckendsten, markantesten, extravagantesten, selbstbewusstesten – und zugegebenermassen auch kürzesten – Virtuosenstücke des Repertoires für Geiger:innen ist nach wie vor weitgehend unbekannt. Das Werk erzeugt eine Atmosphäre, die an Glamour und Charme dem seiner Komponistin in nichts nachsteht, und wenn es bei einem Konzert inmitten anspruchsvoller Bravourstücke vorgetragen wird, behauptet es gelassen seine Position. Wäre das Stück tatsächlich die Frau, die es scheinbar beschreibt – man sähe sie als mit Diamanten geschmückte Diva vor sich. Es trägt den Titel «Tango», reiht jedoch eher alle Arten leidenschaftlicher Tänze aneinander. Der allererste Sprung des Tangos zu einem C hoch oben auf der G-Saite beschäftigte mich wochenlang. Er steht der Tücke der ersten aufsteigenden Tonleiter in Sarasates «Zigeunerweisen» in nichts nach und täuscht dem Spieler dieselbe Unschuld vor wie das Jeté von Fis nach B in den ersten Takten von Kreislers «Caprice Viennois». «Ob die Komponistin wohl Geigerin war, so wie Sarasate oder Kreisler?“, murmelte ich vor mich hin, während ich nach dem C griff und meinen linken Arm immer wieder aufs Neue um den Körper der Geige schlang. «Tango» eignet sich nicht als erstes Stück eines Konzerts. Damit man es überhaupt mit der nötigen Nonchalance spielen kann, müssen die Muskeln bereits aufgewärmt sein. Gleich in den ersten dreissig Sekunden fordern dicht nacheinander gespielte Oktaven auf verschiedenen Saiten, ausdrucksstarke Melodien, schnelle aufsteigende Tonleitern und ein zum Bersten mit Sechsteln und Ricochet-Motiven gefüllter Takt den Geiger oder die Geigerin. Und von Anfang an ist klar: „Tango“ ist ebenso brillant wie anspruchsvoll. Wie so viele aussergewöhnliche Stücke für die Zugabe erfordert es stundenlanges Üben, ist aber schon nach drei Minuten vorbei. Doch trotz seiner Aussergewöhnlichkeit ist es nach wie vor ein Stück für Violine und Klavier, von dem nur wenige gehört haben. Wir verdanken «Tango» einem mysteriösen Komponisten mit nur einem Namen: Poldowski. Poldowski?
Wie sich herausstellte, verbirgt sich hinter dem Pseudonym Poldowski eine Frau prominenter Abstammung: Irena Regina Wieniawski, Tochter von Henryk Wieniawski, Nichte von Henryks Bruder Józef und Tochter von Isabelle Wieniawski, die wiederum die Nichte des irischen Komponisten George Alexander Osborne war.
Beispiele für die Bedeutung familiärer Bande ziehen sich durch die gesamte Geschichte des Geigenrepertoires und der Aufführung. Verwandtschaften können Türen öffnen und Chancen bieten, die sich vielleicht nicht ergeben hätten, wäre man nicht in eine bestimmte Familie hineingeboren oder von einem bestimmten Lehrer unterrichtet worden. Henryk Wieniawski unterhielt zahlreiche Verbindungen zu grossen Musikern und Komponisten – eine Art Garantie für Anerkennung, Erfolg und scheinbar ständige Inspiration. Das alles fehlte Irena. Henryk starb bereits in ihrem ersten Lebensjahr, und so war sie allein auf ihre Fähigkeiten als Komponistin und Musikerin gestellt, die sie durch ihr eifriges Streben nach Lernen verfeinerte.
Es gibt nur wenige Berufe, in denen der Einfluss von Dynastien so tiefgreifend ist wie in der klassischen Musik. Ganz gleich, ob Wissen nun durch familiäre Abstammung oder Lehrtradition weitergegeben wurde: Die mündliche Überlieferung sowie die schriftliche und aufgezeichnete Dokumentation sind von zentraler Bedeutung für den Fortbestand und die Entwicklung unserer Kunstform.
Um eine Geigenschule zu gründen, braucht man zudem Visionen, einen systematischen Ansatz und Botschafter. Der legendäre Geiger, Komponist und Pädagoge Henryk Wieniawski hatte grossen Einfluss auf die Ausprägung des Aufführungsstils und der technischen Fähigkeiten seiner Schüler und auf die Komposition der Stücke, mit denen wir heute vertraut sind. Besonders nahe stand er der französisch-belgischen Schule. Wieniawski war der dritte in der Reihe der Lehrkräfte am Königlichen Konservatorium für Musik in Brüssel und trat damit ein bedeutendes Erbe an. Vor ihm hatten der Gründer der Schule, Charles-Auguste de Bériot, und Henri Vieuxtemps den Posten inne. Zu den Nachfolgern von Henryk Wieniawski gehörten sein Schüler Eugène Ysaÿe und einer von Ysaÿes bedeutendsten Schülern, George Enescu.
Poldowskis Bildungsweg ist nicht eindeutig belegt. In manchen Quellen heisst es, sie sei von klein auf an dem Institut ausgebildet worden, an dem auch ihr Vater unterrichtet hatte. Andernorts liest man, dass sie erst später in Paris eine fachliche Ausbildung erhielt. Vor dem Hintergrund ihrer meisterhaften Kompositionen für die Violine überrascht es, dass ihr Instrument das Klavier war.
Nachdem ich beschlossen hatte, ihre Werke in mein Repertoire aufzunehmen, wurde mir schnell klar, auf welches ihrer Stücke ich mich konzentrieren würde: «Tango» – ich nahm ihre Aufforderung zum Tanz an.
In der Partitur fiel mir als Erstes das rasende Tempo auf, in dem das Klavier in den ersten Takten Akkorde anschlägt. Es folgen eine Reihe von Ausrufen auf der G-Saite, ein Stakkato bis hinauf zum dreigestrichenen C. Es genau zu treffen, dauerte eine Weile. Der Ton ist so ungewöhnlich hoch, dass er dem Geiger oder der Geigerin die Bereitschaft abverlangt, ganz an den äussersten Rand des Griffbretts zu gehen. Bereitschaft deshalb, weil ich ungern eine Verletzung riskiere, und weil ich es, ohne sich aufzuwärmen und ohne ein genaues Verständnis dafür, wie weit die Bewegungsfreiheit des gesamten linken Arms gehen kann, für unmöglich halte, diesen Ton präzise und kontrolliert zu spielen.
Es ist nicht besonders ermutigend, ein Stück neu zu lernen, in dem man sich gleich in Takt drei mit dem Unmöglichen konfrontiert sieht. Ich beschloss daher, positiv zu denken und pfiff das hohe C, stellte mir vor, wie sich die Note unter meiner Fingerspitze anfühlen könnte, und übte weiter.
Das Stück erfordert ständige Präzision der linken Hand, insbesondere bei den Pizzicatti alla chitarra in Takt 12. Das Schwierigste an «Tango» sind jedoch die unablässigen enormen technischen Anforderungen an den Violinisten/die Violinistin: ständige Stimmungswechsel, andauernde Sprünge von einer Saite zur anderen und rasche Strichwechsel, von Spiccato zu Legato und von Staccato zu Martelé. Ein weiteres Merkmal des Stücks ist die Leichtigkeit der Bogenführung direkt am Frosch. Wer sich damit nicht wohl fühlt, sieht sich einer ganzen Reihe schwieriger Stellen mit rasch aufeinanderfolgenden gestrichenen und gezupften Passagen gegenüber. Hinzu kommen Klangwechsel und Cantabile-Passagen sowie empörte, kurze, perkussive Tönen, die hohe Flexibilität in der rechten Hand und im rechten Arm fordern.
Die Dichte, in der Wienawskis Tochter sich über die von ihrem Vater gesetzten Massstäbe hinwegsetzt und eine imposante Reihe neuer Herausforderungen stellt, ist beeindruckend. Man könnte sagen, dass sie, die selbst keine Geigerin war, sehr mutig war, ein Stück zu schreiben, das einen vor geradezu gymnastische Aufgaben stellt. Ich hingegen meine, man könnte darin eine Evolution sehen.
Erst nachdem ich «Tango» bereits einige Zeit geübt hatte, fiel mir auf, dass sich der Titel des Stücks vielleicht nicht nur auf den Musikstil bezieht, sondern auch auf das Übereinkommen zwischen dem/der Spielenden und dem Komponisten, auf das Duett aus Geiger:in und Pianist:in, auf die Geschichte eines sehr leidenschaftlichen Dialogs zwischen zwei Menschen oder auch auf den Monolog eines/einer allein Tanzenden. Vielleicht eine künstlerische Auseinandersetzung Poldowskis mit sich selbst?
Poldowskis Biografien beschreiben die Frivolitäten ihres gesellschaftlichen Lebens und ihrer Salons in gleichem Masse wie ihr Schaffen als Künstlerin. Vielleicht kann ihr brillanter «Tango» durch die Hervorhebung ihres Werks hier seinen rechtmässigen Platz in der legendären Reihe der immerwährenden Lieblinge unter den Zugaben einnehmen, anstatt ein Dasein am Rande der Missachtung zu fristen.
«Legends» ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gwendolyn Masin und dem GAIA Musikfestival in der Schweiz, in Zusammenarbeit mit Orchid Classics und SRF 2 Kultur. Aus der Motivation heraus, Irene Wieniawski alias Poldowski zu würdigen und einen Stammbaum von Familienbanden und Schüler-Lehrer-Beziehungen zu zeichnen, beinhaltet die Aufnahme bisher selten aufgeführte Werke. Dazu gehören Poldowskis Tango für Violine und Klavier, das Streichquintett von Eugène Ysaÿe sowie George Enescus Sept Chansons de Clément Marot. Auf dem Album zu hören sind u. a. Gwendolyn Masin, Kirill Troussov, Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze.