«Das jiddische mensch steht für eine integre, moralische und erhabene Person, die weiss, was richtig und verantwortungsvoll ist. Aber diese Bedeutung ist mehr als nur eine alte jiddische Weisheit. Sie ist heute wichtiger denn je, überall auf der Welt... Ein Mensch zu sein bedeutet, zu helfen. Ein Freund zu sein, in schwierigen Zeiten ruhig zu bleiben. Andere zu unterstützen.» – Michael Kirby AC CMG, ehemaliger Richter am High Court of Australia, Schiedsrichter, Mediator, UN-Beamter
Sergei Redkin, Gwendolyn, Leonard Elschenbroich. Photo: Sára Timár
Manchmal antworte ich auf die Frage, was meiner Meinung nach die ideale Regierungsform wäre: Kammermusik.
Diese Aussage mag überraschend klingen, aber meiner Erfahrung nach gibt es kaum zwischenmenschliche Ausdrucksformen, die von Natur aus ein ähnlich hohes Mass an gegenseitigem Respekt, Ehrlichkeit und der Fähigkeit zuzuhören erfordern wie die Kammermusik. Und wird sie mit dem Anspruch betrieben, wahre Kunst zu schaffen, setzt sie noch dazu Einigkeit unter den Musiker:innen darüber voraus, dass der Kompromiss weitaus freundlicher und konstruktiver ist als der Streit.
Für einen Künstler ist es durchaus eine grosse Sache, «nachzugeben», sich in eine andere Perspektive als die eigene hineinzudenken und sie dann in ein gemeinsames Kunstwerk einzubringen. Das liegt daran, dass das Aufgeben der eigenen (künstlerischen) Meinung zugunsten der einer anderen Person so viele Schritte voraussetzt. Man muss
- bereit sein, Alternativen in Betracht zu ziehen, nachdem man bereits sein ganzes Leben damit verbracht hat, die eigene künstlerische Identität zu entwickeln.
- die Kraft haben, etwas Neues, Anderes oder sogar etwas, das einem nicht gefällt, auszuprobieren.
- loslassen können.
- selbstkritisch sein.
- das immerwährende Verlangen über Bord werfen, seinen Willen durchzusetzen, und so erleben, dass die Gedanken einer anderen Person womöglich bedeutungsvoller oder schöner sind oder einfach nur existieren und ebenfalls Raum verdienen.
Kompromisse waren es nicht, die mich dazu veranlassten, das GAIA Musikfestival ins Leben zu rufen. Mir ging es dabei um Gemeinschaft, Kreativität, Verbundenheit und einzigartige Erfahrungen. Um das Verlassen des Schlachtfelds der Künstlichkeit und der Illusionen. Ich suchte nach einer Möglichkeit, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, durch und durch ehrlich und ein Katalysator für den Wandel zu sein, friedliche Kommunikation fördern und schliesslich herausragende Darbietungen auf die Bühne bringen.
Sandro Meszaros, Jiska Lambrecht, Gwendolyn, Markus Fleck, Patrick Moriarty, Lars Schaper, Abigel Kralik, Martin Moriarty, Fabio di Casola, Selen Schaper. Photo: Sára Timár
Während des Festivals im vergangenen Mai entstand eine nahezu greifbare Verbindung, die weit über die zehn Tage hinausreichte – sowohl unter den Künstler:innen als auch mit dem Publikum. Unsere Konzerte und Rahmenveranstaltungen waren transformative Erfahrungen.
Ich danke allen, die beim Festival dabei waren – und denen, die es mit mir aufbauen, unterstützen, fördern und bewahren und die, wie ich, die nächste Ausgabe kaum erwarten können.
Erika Stucky, Garth Knox, Peter Sheppard Skaerved, Gwendolyn
Mein Freund Peter Sheppard Skærved, der beim diesjährigen Festival auftrat, schrieb kürzlich über seine Erfahrungen am GAIA. Sie können ihn hier zusammen mit seinen Fotos und Skizzen lesen.
2024 wird das Festival zwischen dem 26. April und dem 5. Mai stattfinden. Das Thema des 15. GAIA Musikfestivals lautet «Mensch». Die Aufforderung Sei ein Mensch erinnert uns daran, was Freundlichkeit, Bescheidenheit, Integrität und persönliche Verantwortung in der Welt bewirken können – Aufruf, aus der Geschichte zu lernen, um Menschlichkeit und Empathie zu wecken. Zu den Künstler:innen, die sich uns anschliessen, gehören Lukas Bärfuss, Söndörgő, Miklós Lukács, Amandine Beyer, Danae Dörken, Minna Pensola, Antti Tikkanen, Nicolas Dautricourt, Jonian Ilias Kadesha, Jiska Lambrecht, Gareth Lubbe, Martin Moriarty, Benedict Klöckner, Amy Norrington, Vashti Hunter, Sandro Meszaros, Lars Schaper, und Alpinis, das Volksmusik-Ensemble der Hochschule Luzern – Musik. Als Auftragskomponist:innen sind unter anderem Antoine Auberson, Ákos Hoffmann und Daniel Schnyder tätig. Weitere Informationen über Musiker:innen, Komponist:innen und Partner:innen folgen nach der Sommerpause.
Wednesday
07
June 2023 | 15:00
Clara Schumann | Romanzen, op.22
Robert Schumann | Aus Fantastiestücke für Klavier, op. 12
Johannes Brahms | Violinsonate Nr.3 in d-Moll, op. 108
Marguerite Roesgen-Champion | Hymne
César Franck | Sonate für Klavier und Violine in A-Dur
Burgerspittel |Berne, CH
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Friday
23
June 2023 | 17:30
Johan Halvorsen | Passacaglia, op. 20 no. 2.
Peter Tchaikovsky | Souvenir de Florence, op. 70
With Matthew Chambers (violin), Martin Moriarty and Sam Matzner (violas), Tommaso Verlinghieri and Sandro Meszaros (cellos).
Invitation only.
Sandrain | Berne, CH
Friday – Friday
30 – 07
June 2023
Concerts and Masterclasses with Nina Schumann (piano), Andrey Baranov (violin), Nicholas Dautricout (violin),Frederike Saeijs (violin), Jennifer Stumm (viola), David Cohen (cello), Peter Martens (cello), Knut Erik Sundquist (bass), YaoGuang Zhai (clarinet), Demarre McGill (flute).
Stellenbosch | SA
see website
Meatpacking District, NYC
In dem Bemühen, den alljährlichen Post-Festival-Blues zu überlisten, reisten meine Familie und ich unmittelbar nach dem GAIA Musikfestival nach New York. Schon mein ganzes Leben lang schwärme ich für NYC. Als Kind versetzte ich mich vom Sofa aus mit Filmen, Büchern, Modemagazinen, Bildbänden und Architekturführern in die Metropole und verschlang die Musik der USA: den unsäglichen Kitsch von Dolly Parton ebenso wie die unfassbare Coolness von Jeff Buckley, die politisch engagierte Ani di Franco und den Glitzerpop Madonnas. Quincy Jones, Jackson Five und Ikonen wie Prince, Miles, Ella, Ellington, Bernstein, Stilrichtungen wie Rap, Hip-Hop, R&B und Rock 'n Roll ... die Liste ist schier endlos.
In meiner Fantasie frühstückte ich bei Tiffany's, sass auf Parkbänken im Central Park und wartete unruhig auf eine zukünftige Liebe (wie in zahllosen Filmen von «Manhattan» bis «Harry und Sally»), bee-geete mich fieberhaft durch Samstagnächte, sah Gespenster in der Hook and Ladder-Feuerwache in Tribeca, lachte mit Stand-up-Comedians (und sass mit ihnen im Auto auf dem Weg zum nächsten Coffeeshop), stöberte in «What Goes Around, Comes Around»-Manier nach Vintage-Mode mit Sarah Jessica Parker, während ich im Odeon an einem Cosmopolitan nippte, trug eine New Yorker Tote Bag bei mir, blätterte mit einem Americano in der Hand in der New York Times und starrte auf die Skyline von New York wie einst Tony Soprano.
Central Park
Bei meiner Rückkehr nach Europa fiel mir auf, wie gross die Ruhe war, die der Big Apple in mir ausgelöst hatte. Immer wieder berichten mir Freund:innen, dass sie am Ende eines Tages in New York erschöpft sind von den vielen Eindrücken, dem extrem hohen Tempo des Geschehens, der Fülle an Gerüchen, Geschmäckern, Gesprächen und Geräuschen.
Manche entspannen sich bei einer Reise in die Wüste und lösen sich dort vom Lärm des Alltags. Für sie ist die Stille des Sandes eine einladende Decke, unter die sie schlüpfen, während allein die Sterne am Nachthimmel mit ihrem Flackern ein Geräusch zu erzeugen scheinen.
Aber jemanden, der Tinnitus hat, erinnert ein Wüstentrip nur an das ewige Rauschen in seinem Kopf.
Ich habe in New York Frieden gefunden – mein Geist ist dort zur Ruhe gekommen. Ich habe wie ein leeres Blatt Bilder, Ideen und Dinge gesammelt und mich glücklich und erfüllt gefühlt, ohne das Bedürfnis zu haben, dem Ganzen einen Sinn geben zu müssen. Ich habe einfach alles mitgenommen, mit dem glücklichen Lächeln der Cheshire Cat, und mich dabei völlig schwerelos gefühlt.
Listen to the playlist here.
Cool from West Side Story by Leonard Bernstein | Gwendolyn Masin and Melisma Saxophone Quartet
Autumn in New York | Ella Fitzgerald and Louis Armstrong
Puttin’ On the Ritz | Ella Fitzgerald
Lou Harrison Suite, First Gamelan | Anahid Ajemian, Leopold Stokowski, Maro Ajemian
Walk on the Wild Side | Lou Reed
An Englishman in New York |Godley & Crème
An Open Letter to NYC | Beastie Boys
Village Groove | Fun Lovin’ Criminals
New York Is Killing Me | Gil Scott Heron
Englishman in New York | Sting