Der Raum zwischen den Tönen - IX

Nachdem ich lange Zeit beim Warten auf Auftritte Däumchen gedreht habe, war der August für mich das, was der Weihnachtsmann für den Dezember ist.

Ich zähle 16 Auftritte in vier Wochen, in fünf verschiedenen Städten. Früher wäre das vielleicht Teil einer regulären Tournee gewesen, aber jetzt, nach einer so langen Pause von der Bühne, fühlte es sich geradezu wie ein Marathon an. Im Versuch, meinen emotionalen und körperlichen Zustand zu begreifen, habe ich mich mit anderen Musikern darüber ausgetauscht und dabei festgestellt, dass es nicht nur mir so ging. Dieser Sommer 2021 war für die Kunst so etwas wie eine Wiedergeburt.

GAIA 2021

GAIA-Musiker 2021. Das Bild stammt von Andreas Kehrli, Freiwilliger bei GAIA seit 2012.

Im Anschluss an GAIA kamen meine Eltern zu mir zu Besuch. Sie sind seit Weihnachten 2019 zum ersten Mal wieder in der Schweiz. Während ich mich zurücklehne und nachdenke, während ich Ihnen diese Zeilen schreibe, stelle ich fest, dass ich mich von einer Art ekstatischer Erschöpfung erhole. Es ist nicht einfach nur Müdigkeit – es ist mehr als das. Es ist ein Gefühl, das irgendwo zwischen Jubel und einer Tonne Ziegelsteinen liegt, die aus grosser Höhe auf mich niedergehen.

Wenn ich heute, weniger als eine Woche nach dem Erklingen des Schlussakkords, auf GAIA zurückblicke, kann ich nur staunen, was alle, die an GAIA mitarbeiten, erreicht haben. Mein Team und ich haben als Kollektiv von Gleichgesinnten so viel erlebt. Unser neuer Organisationsleiter, Andreas Fleck, musste nach seiner Einstellung 23 Monate auf die Feuertaufe seines ersten GAIA-Festivals im August warten. Unsere Komiteemitglieder und Freiwilligen haben unser Festival mit mir dreimal organisiert und umorganisiert, bis wir diesen Sommer endlich spielen konnten.

Ich habe das Programm rund um Beethoven mindestens zweimal überarbeitet, wobei ich mein eigenes Arbeitspensum immer wieder heruntergeschraubt habe, um anderen Musikern des Festivals die Teilnahme zu ermöglichen. Dennoch konnte ich einige der Stücke nicht loslassen: Beethovens Septett, sein Streichquintett Opus 29 «Der Sturm» und sein «Geistertrio», das in dieser Saison der «Geisterkonzerte» sehr passend schien. Ich habe wunderbare neue Freundschaften geschlossen – die Verbindung mit der Pianistin Diana Ketler, den Geigern Wouter Vossen und Sebastian Bohren, dem Bratschisten Rumen Cvetkov, dem Cellisten Benedict Klöckner und dem Bassisten Lars Schaper ist keinesfalls alltäglich. Ich bin unendlich dankbar für die Gelegenheit, mit ihnen zu spielen – endlich und wieder.

_

Wouter Vossen, Benedict Klöckner, Gwendolyn, Tomoko Akasaka, Lars Schaper, Moritz Roelcke, Igor Ahss, Hervé Joulain. Als Gruppe haben wir Schuberts Meilenstein, sein Oktett, aufgeführt.

_

Sebastian Bohren und ich arbeiten uns durch Bachs Doppelkonzert bei GAIA.

National Concert Hall International Master Course 2021

Finghin Collins und ich vor der National Concert Hall Dublin kurz nach unserem gestreamten Konzert.

Warum bin ich so müde? Liegt es daran, dass mein lieber Freund Finghin Collins und ich uns bereits Anfang des Monats so leidenschaftlich in unseren dritten internationalen Meisterkurs in der National Concert Hall in Dublin gestürzt haben? Oder daran, dass wir wochenlang über Debussys Violin- und Klaviersonate recherchiert haben, deren Ein- und Aufführung noch immer in uns nachklingt?

Hier können Sie die Aufführung anhören

-

Oder liegt es daran, dass der Marathon, den die diesjährige GAIA mit sieben Konzerten in neun Tagen darstellte, einfach jedem an die Substanz ging? ;-)

War es die Freude, gemeinsam mit anderen Musikern in einem Raum zu sein und zu proben?

War es die unerwartete Nervosität, die mich überkam, als ich auf die Bühne trat, um unsere Gäste zu begrüssen und das Repertoire zu spielen? War es die abendliche Fahrt nach Hause zu meiner Familie, die andere Realität, unser 20 Monate altes Kind dreimal pro Nacht zu füttern, jenseits des Rampenlichts?

Vladimir Mendelssohn (1949 – 2021)

GAIA-Musiker 2021. Vladimir Mendelssohn ist der dritte von links neben Blythe Engstroem und Dora Kokas. Foto von Sára Timár.

War es eine Verwirrung der Gefühle? Wenige Tage vor Beginn des Festivals wählte die Berner Zeitung dieses Bild für die Illustration der Ankündigung von GAIA.

Auf diesem Gruppenfoto, das im Mai 2019 aufgenommen wurde, sehen wir neben anderen lieben Freunden Vladimir Mendelssohn. Es war das letzte Mal, dass ich mit ihm spielte, bevor er am 13. August 2021 im Alter von 71 Jahren starb. Sein Geist war in unzähligen Momenten des diesjährigen Festivals deutlich spürbar.

Vlady

Vladys Aufschrift auf einem GAIA-Plakat von 2019.

Vladimir Mendelssohn am GAIA Festival 2019

Vlady Mendelssohn bei GAIA 2019, von Sára Timár.

Beethoven - Der Triumph der Menschlichkeit über das Unglück

Hat mich das Festival überwältigt? Während andere Veranstalter und Künstler mir berichten, dass Konzerte wegen des schlechten Kartenverkaufs abgesagt werden, bin ich erstaunt, wie gut GAIA besucht war. Die Zuhörer haben ihre Angst vor der Pandemie überwunden und sind zu unseren Konzerten gekommen, um die Freude an Beethoven zu teilen. Von den sieben Konzerten, die wir gaben, waren fünf ausverkauft.

Das Wiedersehen mit dem Publikum, unseren Teammitgliedern, den Musikern, unseren Familien, unserem technischen Team und den Freunden, mit denen wir zusammenarbeiten, wie unserem Tontechniker, Fotografen und Filmemacher, war ebenso neu wie vertraut.

Die ganze Erfahrung verstärkte das Gefühl der Dankbarkeit, das ich in mir trage.

Beethovens 9. Symphonie stellt für mich in gewisser Weise ein Mysterium dar. Wenn Ausserirdische eines Tages zur Erforschung der Menschheit auf der Erde landen, sollten wir Ihnen meiner Ansicht nach dieses Werk vorspielen, um Ihnen zu demonstrieren, wozu wir in der Lage sind. Beethoven selbst, seine virtuos eingesetzte Sprache und die Emotionen, die er in seine monumentalen musikalischen Meisterwerke einflicht, werden die Zeiten überdauern. Denn er setzt die Fähigkeit des Menschen, schwere Zeiten zu überstehen und selbst grössten Widrigkeiten zu trotzen, in Musik um.

Vielen Dank an alle unsere Sponsoren und Partner