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Igor Ozim

Mein Lehrer, Professor Igor Ozim, ist kürzlich, am 23. März 2024, verstorben. Mein Unterricht bei ihm begann, als ich 18 Jahre alt war, nach einem Sommer mit einer Reihe von Meisterklassen in seiner Heimat Slowenien sowie in Klagenfurt und Semmering. Professor Ozim kümmerte sich sehr engagiert um seine Schülerinnen und Schüler. Da ich mir ein Studium in der Schweiz nicht leisten konnte, drückte er mir eine Liste von Wettbewerben in die Hand, an denen ich teilnehmen sollte, um mir so die finanzielle Grundlage für den Unterricht in seiner Berner Klasse zu schaffen. Einen davon gewann ich, und so reiste ich von Dublin aus in die Schweiz, mit meiner Geige in der einen und einem Koffer in der anderen Hand.

Was folgte, waren einige der intensivsten Jahre in der Kunst des Violinspiels. Nach einigen Jahren als Schülerin von Herman Krebbers – einem Lehrer, der vor allem Selbstvertrauen und Selbstsicherheit aufbaute und den Fokus auf Konzerte und Bravourstücke legte – fand ich mich plötzlich in einem «Back to the roots»-Szenario wieder, ebenso wie die meisten anderen Schülerinnen und Schüler von Professor Ozim. Leere Saiten, Tonleitern, Etüden – von Ševčík und Kreutzer bis hin zu Wieniawski, Paganini und Ernst – waren von nun an fester Bestandteil des täglichen Übens, wöchentlichen Unterrichts und monatlichen Klassenvorspiels. Machte es mir Spass? Sicher nicht. Es war zermürbend. Erbarmungslos.
Aber ich spürte, wie es mich veränderte, vom ersten Tag an. War die Zeit in meinem Leben bislang eher nebensächlich, teilte mir nun Professor Ozim, wenn ich zwei Minuten zu spät zum Unterricht kam, unmissverständlich mit, dass ich keinen Unterricht mehr bekommen würde, sollte dies ein weiteres Mal vorkommen. Von da an kam ich zu jeder Stunde 15 Minuten vor der Zeit.
Hatte ich mich bislang vor allem auf mein Talent verlassen, wollte ich nun alles ganz genau wissen: wie eine bestimmte Technik funktioniert, wie ein Stück entstanden ist oder wie man nicht nur langsam, sondern in Zeitlupe übt.

Hatte ich zuvor im Unterricht darauf gesetzt, auswendig zu spielen, musste ich nun bei jeder ersten Aufführung eines Stücks aus der Partitur spielen, weil Professor Ozim darauf bestand.
Intonation und Rhythmus – alle Schülerinnen und Schüler, die Professor Ozim jemals unterrichtete, können sofort eine Liste von Stücken herunterrattern, die sie bei ihm spielen mussten, und in denen das Erlernen dieser grundlegenden Fähigkeiten und das gesamte Verständnis der Partitur oberste Priorität waren.
Und natürlich das Vibrato! Professor Ozim hatte ein Buch, in dem seine Schülerinnen und Schüler aus aller Welt ihre Übersetzung seines «Vibrato-Gebets» eintragen sollten. Ich steuerte eine niederländische Version bei. Das Gebet ging in etwa so:

«Lieber Gott,
lass mein Vibrato gelingen,
- beim ersten und vierten Finger
- beim ersten kurzen Ton nach einem langen
- beim letzten Ton vor und beim ersten Ton nach einem Lagenwechsel
- beim höchsten Ton einer Lage
- beim Überspringen einer Saite
- und beim Diminuendo.
Amen.»

Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen, aber Ozim liess mich ein halbes Jahr lang nicht vor Publikum spielen, sehr zum Ärger meines damaligen Managers. Er bestand darauf, zuerst daran zu arbeiten, wie ich an das Auftreten heranging – dass ich das nicht für notwendig hielt, spielte keine Rolle. Er meinte dazu nur: «Gwendolyn, ich bin kein Psychologe. Aber ich bin ein hervorragender Psychologe.» Und er hatte recht.

Professor Ozim bestärkte mich darin, Fragen zu stellen, und sobald er das Gefühl hatte, dass ich von meiner Meinung nicht abrücken würde, unterstützte er meine Interpretationen, wie eigenwillig sie auch waren, solange ich sie begründen konnte. Selten traf ich einen Violinisten oder eine Violinistin, die so gut erklären konnten wie er. Systematisch. Überlegt. Mit brennender Neugier.
In seinen Fingern steckte eine ungeheure Menge an Repertoire, und seine schier endlose Musik-Bibliothek war auf das Sorgfältigste zusammengestellt und enthielt Barock, Klassik und Romantik ebenso wie moderne und zeitgenössische Musik. Er liebte all dies – und beherrschte es auch.
Seine Schülerinnen und Schüler durchblätterten Seite um Seite seiner Partituren und schrieben Fingersätze und Stricharten ab, dankbar für jedes bisschen seines Wissens, dass wir für uns nutzen konnten.
Professor Ozim unterrichtete nonstop und pendelte mit dem Zug zwischen seinen Professuren in Bern, Köln, Wien, Madrid und Schweden hin und her und kam stets pünktlich. Im Gepäck: ein rasiermesserscharfer Sinn für Humor in jeder der vielen Sprachen, die er beherrschte. Immer warteten wir auf sein leises Lachen oder ein Lächeln, wenn er wieder einen Scherz auf den Lippen hatte.

Als ich einige Jahre nach Abschluss meiner Studien bei anderen Meisterinnen und Meistern wie Ana Chumachenco, Zakhar Bron und Shmuel Ashkenasi die Fülle des mir vermittelten Wissens strukturieren wollte, regte er mich als Erster dazu an, darüber zu schreiben. Es folgte meine Doktorarbeit, während der ich oft das Gespräch mit ihm suchte, um zumindest einen Bruchteil dessen, was ich bei ihm gelernt hatte, konsolidieren zu können.
Bereits bei den ersten GAIA Musikfestivals in der Schweiz gab Professor Ozim Meisterklassen und Kammermusikkonzerte, gemeinsam mit leider bereits verstorbenen Künstlern wie Vladimir Mendelssohn und noch lebenden Grössen wie Frans Helmerson, Philippe Graffin und Professor Ozims Ehefrau, unserer Kommilitonin und herausragenden Lehrerin Wonji Kim. Von Anfang an sagte ich Professor Ozim, dass wir noch nicht die finanziellen Möglichkeiten für ein angemessenes Honorar haben. Er meinte, ich solle sein Honorar für Stipendien zugunsten interessierter Schülerinnen und Schüler ausgeben.

Während ich einige Tage nach der Nachricht vom Tod von Professor Ozim die Beileidsbekundungen seiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler las – darunter die meiner Kommilitonin Patricia Kopatchinskaja sowie von Roberto González-Monjas und Kurt Sassmannshaus –, ertappte ich mich bei einem Lächeln.
Ein Satz, den meine Mutter sagte, gleich nachdem sie von der traurigen Nachricht erfahren hatte, war bei mir hängen geblieben: «Ein Lehrer lebt weiter in seinen Schülern.» Ich gab gerade selbst Unterricht und erklärte meinem Schüler: «Diese Bindung über zwei Töne bedeutet ein Diminuendo.» – Und glauben Sie mir: Mit diesem Wissen erleben Sie Mozart-Kompositionen wie nie zuvor. Eine der tiefen Weisheiten, die Professor Ozim immer wieder vermittelte.

Als ich später für eine bevorstehende Tournee Camille Saint-Saëns «Introduction et Rondo Capriccioso» übte, stiess ich auf eine vertraute Handschrift – Notierungen von Professor Igor Ozim. Seine Gedanken über Stricharten und Lagenwechsel sprangen mir entgegen. Professor Ozims unstillbarer Neugier sind seine Aufführungen einiger der grössten Werke der Violinliteratur zu verdanken, die ihn bekannt gemacht haben, darunter eine besonders unkonventionelle Sicht auf Mendelssohns Violinkonzert aus den frühen 2000er Jahren, die nahezu jede Phrase auf den Kopf stellt und hinterfragt.

Seine Schülerinnen und Schüler sind alle ausgesprochen erfolgreich – Konzertmeisterinnen und -meister, Stimmführerinnen und -führer, Solistinnen und Solisten, Kammermusikerinnen und -musiker.

Ich vermisse meine wöchentliche Stunde mit ihnen. Und ich vermisse ihn.

«Lieber Gott,
bitte lass uns immer wieder all das weitergeben, was uns Professor Ozim gelehrt hat.
Er war ein leuchtendes Vorbild. Wir vermissen ihn sehr.
Amen.»

> Mehr über Professor Ozims Sicht auf das Unterrichten des Violinspiels erfahren Sie in meiner Doktorarbeit, die Sie hier gratis herunterladen können.

> Oder sehen Sie sich folgendes Interview an, das ich für das GAIA-Musikfestival mit ihm geführt habe.

> Den Nachruf auf Professor Igor Ozim in The Strad finden Sie hier.

> Den Nachruf auf Professor Igor Ozim in der Schweizer Musikzeitung finden Sie hier.