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Nur das Tüpfelchen auf dem I? – gendern oder nicht gendern, das ist hier die Frage! (3 Minuten Lesezeit)

Als mein Team und ich kürzlich an Texten für verschiedene Projekte arbeiteten, bat ich eine junge Frau darum, Teile davon Korrektur zu lesen. Vieles von dem, was ich schreibe, entsteht zunächst in englischer Sprache. Erst später werden meine Texte in andere Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Deutsche, in dem manche Substantive gegendert werden, um auszudrücken, dass alle biologischen Geschlechter angesprochen sind. Deshalb bat ich die junge Frau um Unterstützung in dieser Angelegenheit: Ich wollte sicherstellen, dass wir in unseren Texten eine inklusive Sprache verwenden. Seit über 60 Jahren befindet sich die deutsche Sprache – und mit ihr die deutsche Kultur – in einem Prozess. In den 1960er Jahren wünschten sich Frauen mehr Sichtbarkeit und begannen damit, einen Schrägstrich einzusetzen, der anzeigen sollte, dass sowohl Männer als auch Frauen einen Beruf ausüben können. Aus Lehrern wurden Lehrer/innen. Die ersten Varianten des Genderns wurden widerstrebend zur Kenntnis genommen, selbst unter Feminist:innen. Sie kritisierten die Unterordnung der Frauen untereinander und waren der Ansicht, dass Frauen mehr als nur ein Anhängsel sein sollten.

Gwendolyn Masin by Balazs Borocz DSC 2429 Gwendolyn Masin
Foto: Balázs Böröcz

Ab dem Ende der 1970er boomten die feministische Linguistik und das Konzept der gendergerechten Sprache. Es folgten Richtlinien internationaler Organisationen wie der Guide to Non-Sexist Language der UN im Jahr 1987. Genderneutrale Sprache war in akademischen Kreisen durchaus populär, aber weit entfernt vom Mainstream. Der nächste Schritt in der Entwicklung der genderneutralen Sprache war die Verwendung eines grossen „I“ zur besseren Lesbarkeit. Aus Lehrer/innen wurde LehrerInnen.

Die queere Community stand einer binären Form der Sprache kritisch gegenüber. 2003 schlug Steffen Kitty Herrmann einen Unterstrich vor, um Menschen zu inkludieren, die sich selbst weder als Frau noch als Mann definieren. Ab diesem Zeitpunkt war auch die Bezeichnung Lehrer_in anerkannt. Die Schreibweise war vorwiegend in queeren und feministischen Kreisen gang und gäbe, konnte sich aber bei der allgemeinen Bevölkerung nicht durchsetzen. In den 1990ern wurde das «*» zum festen Bestandteil von Wörtern, die Trans* Personen bezeichnen.

Inzwischen wird immer häufiger ein Doppelpunkt eingesetzt: Lehrer:in. In dieser Schreibweise wird das Wort von Screenreadern für Sehbehinderte oder Blinde mit einer kurzen Pause vorgelesen und gilt deshalb als besonders inklusiv. Wie mir aufgefallen ist, gibt es, sofern einem die Inklusionsfähigkeit nicht wichtig ist, viele Gründe, die gegen das Gendern sprechen. „Welche könnten das wohl sein?“, werden Sie fragen. Nun: die Schönheit der Sprache, ihr natürlicher Fluss und die leichte Lesbarkeit. Dies sind jedenfalls die häufigsten Argumente, die mir zu Ohren kommen.

Die junge Frau aus meinem Team machte sich also daran, meinen Text Korrektur zu lesen. Dann ging er an fünf meiner Vertrauenspersonen, von denen ich weiss, dass sie sich gesellschaftlich engagieren. Zufällig waren alle fünf weisse Männer über 50. Allesamt Koryphäen Ihres Fachbereichs. Und alle fünf teilten mir mit, dass der Text zwar inhaltlich gelungen sei, sich aber schwer lesen lasse. Einer der Männer fühlte sich geradezu abgestossen davon, wie sperrig der Text sei, wenn man ihn gendere, und meinte, wir sollen lieber Tippfehler korrigieren, anstatt die deutsche Sprache zu ruinieren.

Als ich dieses Feedback an die junge Frau zurückgab, reagierte sie zornig und sagte: «Die Meinung alter weisser Männer zu diesem Thema interessiert mich überhaupt nicht.» Als ich sie fragte, ob sie wirklich ihre Meinung in dieser Form ausdrücken wolle, obwohl sie die Betroffenen nicht kenne, über die sie urteile, und ob sie nicht zwischen Boomern (aktuell 57 bis 75 Jahre alt) und Gen X (zwischen 41 und 56) unterscheiden wolle, wiederholte sie ihre erste Aussage und fügte hinzu: «Viele Menschen haben jede Menge Zeit damit verbracht, über dieses Thema nachzudenken.»

Ich fühlte mich von ihrer Reaktion im Namen meiner Vertrauten angegriffen. Doch sie liess mir auch keine Ruhe. Ich wunderte mich darüber, wie schnell die junge Frau jemanden und den Wert seiner Meinung in Bausch und Bogen ablehnte, ohne über die Gründe dafür nachzudenken. Was das der Emanzipation dienlich? Und wie konnte sie eine komplette Bevölkerungsgruppe pauschal in die chauvinistische Schublade stecken? Anscheinend ist Altersdiskriminierung das letzte gesellschaftlich akzeptable Vorurteil. Andererseits: Was bedeutet schon eine etwas sperrigere Satzkonstruktion, wenn dafür mehr als 50 % der Weltbevölkerung grössere Sichtbarkeit erhält? Welchen Preis sind wir für die Gleichberechtigung zu zahlen bereit? Und könnte die Suche nach neuen Wegen sich auszudrücken der Gesellschaft vielleicht die Chance auf eine neue klarere und poetischere Verwendung der Sprache geben?

Wie ich in Gesprächen mit verschiedenen Sprachwissenschaftler:innen feststellte, darunter eine Germanistik-Professorin, die eine meiner Schüler:innen ist, ein Dozent für Soziolinguistik, ein Professor für Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste mit Spezialisierung auf Identitäts- und Geschlechterthemen sowie ein Übersetzer und eine Übersetzerin, feststellte, sind einige von ihnen der Meinung, dass das Gendering der deutschen Sprache zu Lasten ihrer Ästhetik geht. Kritiker bemängeln, dass Sternchen, Unterstriche, Doppelpunkte etc. das Lesen erschweren und dass die Angabe binärer und nicht-binärer Formen zu lange Sätze zur Folge hat. Ihr Argument: Das grammatikalische Genus weist Substantiven ein Geschlecht zu, die oft nicht mit ihren realen Eigenschaften übereinstimmen. Anders formuliert: Ob etwas grammatikalisch gesehen maskulin oder feminin ist, lässt sie völlig kalt. Sprachwissenschaftler:innen interessieren sich vielmehr für Themen wie Beugung, Intention und Kontext. Sie gehen davon aus, dass im sprachlichen Kontext alle Geschlechter ihre Daseinsberechtigung haben und dass das Genus nur ein Charakteristikum ist, im Gegensatz zur Bewertung einer Sache aufgrund ihres Geschlechts.

Ich glaube, dass es hier weniger um Vorurteile oder Ästhetik geht als um unterschiedliche Sichtweisen. Wer nie seine Stimme erheben musste, um gesehen, gehört und respektiert zu werden, und vor allem, wer nie für seine Rechte kämpfen musste, der hat es kaum nötig, sich darüber aufzuregen, wenn ein Satz länger wird, damit er alle einbezieht und nicht nur sich selbst. Als jemand, der seine Stimme schon oft aus anderen Gründen erhoben hat, kann ich Ihnen versichern, dass es hart, schmerzlich und furchteinflössend ist, die einzige Person im Raum zu sein, die für eine ganze (oft unterrepräsentierte) Gruppe von Menschen eintritt. In diesem Kontext ist es sehr zu begrüssen, dass sich beispielsweise die bekanntermassen sehr individualistische LGBTQ+-Community zusammengefunden hat und nachhaltig für ihre Rechte eintritt.

Die Sprache hat sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und verändert. Es ist wichtig, dass wir sie nicht nur als ein Werkzeug der Poesie und Prosa oder der Kunst und Akademiker begreifen, sondern auch als grundlegendes Ausdrucksmittel. Ganz gleich, was die Geschichte uns weismachen möchte: Wir haben das Know-how, das ganz natürlich mit der Erfahrung kommt, nicht entwickelt. Wir Menschen sind noch nicht so weit, dass wir sehen, worum es bei der ganzen Debatte wirklich geht: unsere Menschlichkeit.

Wer weiss, ob sich der Gender-Doppelpunkt durchsetzen wird. Ein Wendepunkt ist jedenfalls inzwischen erreicht: Vor einigen Monaten hat der Duden in seinem Online-Wörterbuch das generische Maskulinum abgeschafft. Die Sprache bemüht sich inzwischen ganz eindeutig darum, Männer und Frauen gleichermassen anzusprechen.